Einmal in mehreren Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament niederhalten und zertreten soll – das ist das wirkliche Wesen des bürgerlichen Parlamentarismus. (Lenin, Staat und Revolution, 1917, Werke, Band 25)
Der erste Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl 2022 ist entschieden:
Nombre | % Wahlberechtigte | % gültige Stimmen | |
---|---|---|---|
Wahlberechtigte | 48 747 876 | ||
Nichtwähler | 12 824 169 | 26,31 | |
gültige Stimmen | 35 923 707 | 73,69 | |
Ungültige Stimmen | 543 609 | 1,12 | 1,51 |
Leere Stimmzettel | 247 151 | 0,51 | 0,69 |
Gültige Stimmen | 35 132 947 | 72,07 | 97,8 |
Ministère de l’intérieur, 11 mai
Mehr als 7 Millionen Arbeitnehmer*innen sind nicht wahlberechtigt (sie sind unter 18 Jahre alt oder sind Ausländer*innen), selbst in Frankreich lebende EU-Bürger haben kein aktives Wahlrecht bei den Präsidentschaftswahlen oder der Legislative. Ein weiterer Teil (7,6 Mio.), das betrifft insbesondere hochqualifizierte Jugendliche, sind kaum erfasst (sie sind an ihrer neuen Wohnadresse nicht gemeldet, was die Stimmabgabe behindert), und unter den gering qualifizierten Jugendlichen und Arbeitslosen lassen sich viele entweder nicht registrieren (5 Mio.) oder wenn sie registriert sind, gehen sie nicht wählen (fast 13 Millionen diesmal).
Profil der Nichtwähler*innen | |||
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Nach Beruf der Befragten | Wähler*innen74 | Nichtwähler*innen26 | Gesamt100 |
Leitende Angestellte und Beamte | 74 | 26 | 100 |
Zwischenschichten | 73 | 27 | 100 |
Arbeiter*innen | 67 | 33 | 100 |
Pensionist*innen | 81 | 19 | 100 |
Mit 26,3 % war der Nichtwähleranteil erneut massiv. Gegenüber 2017 ist er um 4,1 % gestiegen. Hinzu kommen trotz der Fülle an Kandidaten 0,2 Millionen ungültige Stimmen und 0,5 Millionen Weißwähler*innen. Ein großer Teil der Arbeiterklasse war also nicht wahlberechtigt oder meinte, bei dieser Wahl keine politische Perspektive zu haben. In der Tat ist diese Enthaltung in den Departements und Städten, wo Arbeiterinnen und Arbeiter am stärksten vertreten sind, auch am sichtbarsten, wie in Vaulx-en-Velin an der Rhône mit 40,4 %, in Seine-Saint-Denis mit durchschnittlich 30,2 %, aber 39,9 % in Stains oder 36,51 % in Aubervilliers usw. Dies ist größtenteils die Folge des wiederholten Verrats der PS und der PCF, wenn sie an der Regierung beteiligt waren und des Verrats der Gewerkschaftsführungen an den Kämpfen.
bürgerliche Parteien | Stimmen | % Wahlberechtigte | % gültige Stimmen |
---|---|---|---|
Emmanuel MACRON (LREM, MoDem…) | 9 783 058 | 20,07 | 27,85 |
Marine LE PEN (RN) | 8 133 828 | 16,69 | 23,15 |
Éric ZEMMOUR (Recon) | 2 485 226 | 5,1 | 7,07 |
Valérie PÉCRESSE (LR, UDI…) | 1 679 001 | 3,44 | 4,78 |
Yannick JADOT (EELV, Générations, GE…) | 1 627 853 | 3,34 | 4,63 |
Jean LASSALLE (Résistons) | 1 101 387 | 2,26 | 3,13 |
Nicolas DUPONT-AIGNAN (DlF) | 725 176 | 1,49 | 2,06 |
Total | 25 535 529 | 52,39 | 72,67 |
GMI à partir des données du ministère de l’intérieur
Ein bürgerlich-liberaler Pol
Ein Block um den Hauptkandidaten der Bourgeoisie, Macron, vereint mit 27,8 Prozent und 9,78 Millionen Stimmen nun die traditionelle Wählerschaft der bürgerlichen Parteien. Er ködert immer noch qualifizierte Arbeiter und vor allem das Management, indem er unter anderem viele Wähler*innen von der im Chaos versinkenden Les Républicains-Partei [bürgerliche, rechtsliberale Partei] an sich bindet, die von seiner harten Polizeiarbeit und seiner reaktionären Achse angezogen werden. Denn das Programm von Macron, diesem Schlächter und Schläger der Gelbwesten und der mitten in einer Pandemie Betten in öffentlichen Krankenhäusern eingespart hat, hat nichts mit dem “Fortschritt” zu tun, den er gegenüber Le Pen beschwört: Fortsetzung der Angriffe auf die Pensionen, den öffentlichen Dienst, arbeitslose Jugendliche, Universitäten, Migrant*innen … Sein Programm ist das Programm des Großkapitals zur Sicherung der Profitrate, einerseits durch Ausbluten der Arbeiterklasse, aber auch der Handwerker, der arbeitenden Bauern, der Führungskräfte und andererseits durch Stärkung der Polizeigewalt im Inneren und durch die Aufrechterhaltung der Übergriffe des französischen Imperialismus nach außen, wenn möglich durch das Postulat einer europäischen Armee, um die Nato-Dominanz der USA zu überwinden . Deshalb hat Macron die klare Unterstützung der MEDEF (Mouvement des entreprises de France – Unternehmerverband Frankreichs, vgl: IV) für den zweiten Wahlgang.
Ein faschistoid-bürgerlicher Pol
Ein Block mit der faschistoiden Kandidatin Le Pen als treibende Kraft kommt auf 23,1 % der Stimmen oder 8,14 Millionen Wähler*innen. Um sie kreisen ihr Konkurrent Zemmour, der sie mit 7 % der Stimmen nicht verdrängen konnte, und mit 2,1% der Stimmen Dupont-Aignan, ein obskurantistischer Anti-Impf-Nationalist. Die Gesamtstimmenzahl dieses Blocks, die 32,3 Prozent der abgegebenen Stimmen ausmacht, deutet sowohl auf eine wachsende Verärgerung eines Teils des städtischen und ländlichen Kleinbürgertums hin, dem der Ruin durch das Kapital droht, als auch auf die Panik von Kleinkapitalist*innen, die mit dem Großkapital konkurrieren und nicht in der Lage sind, die fälligen Rückzahlungen an ihre Banken zu leisten. Sie alle suchen verzweifelt nach einem Retter.
Wenn man bedenkt, dass 12 % der “Arbeiter” Ausländer sind (laut Insee), wenn 6 % der “Arbeiter” nicht registriert sind (es sind sehr viel mehr), wenn 33 % der “Arbeiter” sich enthalten (laut Ipsos), wenn 1 % ihrer Stimmen weiß oder ungültig sind (es sind viel mehr) und wenn 36 % der “Arbeiter”, die gewählt haben, einen Le-Pen-Zettel in die Urne werfen (Ipsos), dann stellen sie :
(88/100)*(94/100)*(67/100)*(99/100)*(36/100) = 19,7/100 aller in Frankreich arbeitenden Arbeiter.
19,7 % sind zu viele, aber mindestens 80 % der “Arbeiter” haben nicht für Le Pen gestimmt. Außerdem besteht die Arbeiterklasse nicht nur aus “Arbeiter*innen”, sondern auch aus allen “Angestellten”, einer Mehrheit der “mittleren Berufe” (wo deutlich weniger Le Pen wählen) und sogar einer Minderheit unter den “Führungskräfte und höheren intellektuellen Berufe” (die kaum Le Pen wählt). Etwa 83-85 % der Arbeiter*innenklasse haben im ersten Wahlgang nicht für Le Pen gestimmt.
Le Pen, die Verschwörungstheorien und illusorische Heilmittel gegen Covid weiter verbreitete, verspricht der Arbeiter*innenklasse die Schwächung der Europäischen Union und ein Wiederaufleben des Protektionismus, was den französischen Kapitalismus in den Abgrund stürzen würde. Der NATO setzt sie das Bündnis mit Russland entgegen. Die Diskreditierung der parlamentarischen Institutionen will sie durch eine Beschneidung der Freiheiten ersetzen, die sich auf demagogische Referenden stützt, eine Tradition, die von Louis Bonaparte und Charles de Gaulle geerbt wurde. Le Pen verspricht der kleinen Fraktion der gering qualifizierten oder ländlichen Arbeiter*innen, die sichvon den reformistischen Arbeiter*innenparteien und den Gewerkschaftsführungen – die unfähig sind, ihre Mitglieder gegen ihre Ausbeuter zu organisieren, und die bei der Ausarbeitung aller Regierungsangriffe sogar mitwirken – im Stich gelassen fühlt, dass sie ihnen Sozialleistungen, Wohnungen usw. geben wird, die sie den Einwanderern wegnehmen wird. Ebenso wenig wie Macron hat Le Pen die geringste Absicht, den Kapitalismus, die Profite und „die Bosse“ anzugreifen. Sie will sogar alle direkten Steuern für Geschäftsführer*innen bis zum Alter von 30 Jahren abschaffen. Wie Macron weigert sie sich, den Mindestlohn über das Gesetz hinaus zu erhöhen, wie Macron verspricht sie Lohnerhöhungen, die die Geschäftsführung nichts kosten, und ruiniert die Krankenversicherung, während sie sich als “Beschützerin” aufspielt. In Wirklichkeit ist sie nicht nur dem Kapital gegenüber unterwürfig, sondern erweist ihm auch den größten Dienst, indem sie die Klasse, die vom Kapital ausgebeutet und ständig bedroht wird, zwangsweise spaltet. Migrant*innen, Arbeiter*innen mit Migrationshintergrund und ihre Nachkommen wären ihre ersten Opfer. Aber es ist natürlich die gesamte Arbeiterklasse, die Jugend, unabhängig von ihrer Hautfarbe, die die wirtschaftliche und politische Rechnung bezahlen wird!
Arbeiter*innenbewegung | Stimmen | % Wahlberechtigt | % gültige Stimmen |
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Jean-Luc MÉLENCHON (LFI, Ensemble, POI…) | 7 712 520 | 15,82 | 21,95 |
Fabien ROUSSEL (PCF, PRG, MRC, GRS…) | 802 422 | 1,65 | 2,28 |
Anne HIDALGO (PS) | 616 478 | 1,26 | 1,75 |
Philippe POUTOU (NPA) | 268 904 | 0,55 | 0,77 |
Nathalie ARTHAUD (LO) | 197 094 | 0,4 | 0,56 |
Total | 9 597 418 | 19,68 | 27,31 |
Ministère de l’intérieur
Ein sozial-chauvinistischer Pol
Ein Block um die Stimme Mélenchons vereint mit 21,95 % fast 7,7 Millionen Stimmen auf sich. Damit wird er bei den 18- bis 34-Jährigen mit über 30 % der Stimmen zum ersten Kandidaten. Die Arbeiter*innenviertel stimmten für diesen Kandidaten, wenn sie sich nicht der Stimme enthielten. So lag Mélenchon in den großen Städten Frankreichs oft vor Macron, wie in Marseille, Lille, Nantes, Rouen, Le Havre, Grenoble, Mulhouse, Rennes, Montpellier, Toulouse, Straßburg… oder Kopf an Kopf, wie in Paris und Lyon. Da die “nützliche Stimme” für Mélenchon eine Rolle gespielt hat, setzt die PS ihre Talfahrt mit 1,75 % fort und wird von der PCF überholt, der es mit 2,28 % nicht gelingt, die Lage zu retten. Die Kandidaten, die nicht in den Nationalismus abrutschten, wurden ebenfalls marginalisiert: NPA mit 0,77 % und LO mit 0,57 %.
Mélenchon war wieder einmal der Anwärter auf den Posten des obersten Retters und der Sämann bürgerlich-demokratischer Illusionen: “Wählt Mélenchon, und ihr bekommt die Rente mit 60 Jahren. Ihr braucht keine Streiks zu machen, die euch viel Geld kosten oder gefährlich sind”, sagte er am 20. März in Paris. Er profitierte wie Le Pen vom “Wir haben es nicht versucht”-Effekt, obwohl er ein ehemaliger Minister ist. Sein Programm war nicht wirklich radikal: Er brachte zwar einige soziale Maßnahmen vor und verteidigte die Migrantinnen und Migranten im Land (außer die tschetschenischen Flüchtlinge, die Opfer von Putins blutiger Rekolonialisierung wurden), aber er fuhr fort, die schmutzige Arbeit der faschistischen Parteien zu erleichtern: Leugnung des Klassenkampfes, Denunziation der Finanzwelt und nicht des gesamten Kapitals, für die Nation und die Trikolore, für die Stärkung des bürgerlichen Staates (einschließlich Polizei und Armee), für die Begrenzung der Einwanderung.
Im zweiten Wahlgang: zwei erbitterte Feinde der Arbeiter*innen.
Die Tatsachen liegen auf dem Tisch. Alle, die über “Frankreich” und “die Nation” schwafeln, verteidigen den französischen Kapitalismus und sind sich im Wesentlichen einig.
Die CFE-CGC, zu der auch die wichtige Gewerkschaft der Polizisten gehört, die wie das Militär überwiegend Le Pen wählen, äußert sich nicht. Die Force Ouvrière [FO – reformistische, antikommunistische Gewerkschaft], die 1981 die Anwesenheit von Ministern der PCF in der Regierung anprangerte, belastet ihre Neutralität angesichts des zweiten Wahlgangs, da viele ihrer Führungskräfte Mitglieder der LR und der RN sind. In Nantes prangert die FO sogar die Präsidentin der Universität an, die sich öffentlich gegen Le Pen ausspricht.
Wie 2002 mit Chirac und 2017 mit Macron rufen die PCF, die PS und die CFDT heute dazu auf, Macron, den Kandidaten des Großkapitals, zu wählen, um Le Pen, die faschistische Kandidatin, zurückzudrängen. Andere sind jesuitischer, wie Mélenchon und Poutou, die wie die Führung der CGT, von Solidaires und der UNSA dazu aufrufen, keine Stimme für Le Pen abzugeben, und implizit die Wahl von Macron unterstützen, ohne es zu sagen. Das Argument ist ebenso bekannt wie falsch: Wer für Macron stimmt, verhindert den Faschismus.
Aber noch nie haben bürgerliche Wahlen Fortschritte in Richtung Sozialismus oder gar eine Blockade des Faschismus ermöglicht. Inwiefern hat die Stimmabgabe für Macron im zweiten Wahlgang 2017 verhindert, dass Le Pen ihren Einfluss vergrößerte, wie die Parteivorsitzenden der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften behauptet haben? Im Gegenteil, es ist die Politik Macrons auf der einen Seite und die Weigerung dieser Parteispitzen auf der anderen, sich dem Faschismus mit allen möglichen politischen Mitteln entgegenzustellen. Ihre Versöhnungspolitik, ihre Politik der Begleitung aller Gegenreformen durch Konzertierung und sozialen Dialog, nährt und nährte den Aufschwung der RN. Und sie wollen es uns ein drittes Mal heimzahlen, indem sie die Arbeiter*innenklasse und die Jugend erneut entwaffnen, dadurch, dass sie sie auffordern, die Pest zu wählen, um die Cholera abzuwehren!
Der Ausweg ist der Klassenkampf
Es gibt bei dieser Wahl keinen Ausweg für die arbeitende Bevölkerung! Der Ausweg wird aus der Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse auf ihrem eigenen Terrain kommen.
Keine Stimme für Le Pen! Nicht eine Stimme für Macron!
Die Forderungen der Arbeiter*innenklasse, die Erhöhung der Löhne und ihre sofortige Anpassung an die Preisentwicklung, das Verbot von Entlassungen, massive Kredite und Arbeitsplätze mit Löhnen, die diesen Namen auch verdienen, im öffentlichen Dienst (angefangen bei den Krankenhäusern, die vor dem Zusammenbruch stehen), die Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Produkte des Massenkonsums usw. ebenso wie die Erhaltung des Klimas und der Umwelt stehen im Gegensatz zur Wiederwahl von Macron wie auch zum Einzug von Le Pen in den Elysée-Palast.
Wir müssen uns alle gemeinsam auf den Kampf vorbereiten. Die Gewerkschaftsführungen müssen aufgefordert werden, jegliche Verhandlungen über künftige Angriffe abzulehnen, die Mitbestimmungsgremien zu verlassen und eine Einheitsfront gegen die reaktionären Projekte von Le Pen oder Macron zu bilden. Wir müssen ab sofort die Perspektive des Generalstreiks, der Verteidigung der Kämpfe und der Arbeiter*innenorganisationen gegen die faschistische Polizei und die faschistischen Schlägertrupps sowie der Enteignung der kapitalistischen Konzerne eröffnen.
Erfüllung aller Forderungen!
Für eine Arbeiter*innenregierung vom Typ der Pariser Kommune!
Für die Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa!
Für eine echte, revolutionäre und internationalistische Arbeiter*innenpartei!
Wir aber werden mit den Opportunisten endgültig brechen; und das ganze klassenbewußte Proletariat wird mit uns sein im Kampf nicht um eine „Verschiebung der Machtverhältnisse“, sondern um den Sturz der Bourgeoisie, um die Zerstörung des bürgerlichen Parlamentarismus, um die demokratische Republik vom Typ der Kommune oder die Republik der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, um die revolutionäre Diktatur des Proletariats. (Lenin, Staat und Revolution)